Brandbeschleuniger Digitalisierung?
Neben der Frage nach dem Vorsorgeprinzip bei weiterer Zunahme von Mobilfunkstrahlung hätte Naturschützer vor allem die des „ökologischen Fußabdrucks“ der Digitalisierung und des mobilen Internets interessiert. Hatte doch der Wissenschaftliche Beirat globale Umweltveränderungen der Bundesregierung (WBGU) bereits 2019 vor einem potentiellen „Brandbeschleuniger“ der Klimakrise gewarnt. Im Fazit des Hauptgutachtens „Unsere gemeinsame digitale Zukunft“ heißt es unmissverständlich: „Ohne aktive politische Gestaltung wird der digitale Wandel den Ressourcen- und Energieverbrauch sowie die Schädigung von Umwelt und Klima weiter beschleunigen.“
Wie sind die aktuell geschätzten Salden aus stark wachsenden Datenmengen und ‑transfers auf der einen und Effizienzgewinnen auf der anderen Seite? Auf Basis welcher Realdaten und Trendprognosen entschied sich die Bundesregierung für den flächendeckenden 5G-Ausbau, der auch im Landkreis Rosenheim voranschreiten soll?
Optimistische und pessimistische Studien
Verschiedene Abschätzungen des Energieverbrauchs für Datentransfers und die Speicherhaltung gingen in den letzten Jahren von exponentiellem Wachstum aus, speziell wenn man auch noch die Ökobilanz der Hardware hinzunimmt. Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Tilman Santarius in der ZEIT: "Wirtschaft und Politik sehen in der Digitalisierung in erster Linie einen neuen Wachstumsmotor. Allein vom Internet der Dinge erwartet man in den nächsten zehn Jahren in Deutschland 30 Milliarden Euro zusätzliche Gewinne für die Industrie und ein Prozent Wachstum pro Jahr. Aus ökologischer Sicht ist das fatal. Mehr Wachstum bedeutet, dass mehr produziert und verbraucht wird".
Im Buch „Smarte grüne Welt?“ (2018) schätzte er, bis 2030 werde der Anteil der Informationstechnik am globalen Stromverbrauch auf 30% steigen. Dieser Trend scheint derzeit gebrochen. Mit 5G könnte aber der Wachstumsmotor wieder anspringen. Zudem wächst der jährlich weltweit anfallende Elektroschrott Santarius zufolge um ca. vier Prozent und dürfte heute bereits mit 50 Megatonnen die Masse der deutschen PKW-Flotte aufwiegen. Da ein hoher Anteil in ärmere Länder exportiert wird, müssten Bundesregierung und EU verbindliche Recycling-Vorgaben machen. Ist dies in der Digitalisierungs-Agenda enthalten?
Grünes Wachstum dank Digitalisierung?
Digitale (mobile) Dienste bieten sicherlich erhebliche Chancen auf Einsparungen in „analogen“ Bereichen. Eine Mobilitäts-APP, die den ÖPNV attraktiver macht, oder ein Geschäftstermin per Videokonferenz wirkt positiv im Sinne verminderter CO2-Aufwände. Bequemlichkeit und individuell zugeschnittene Werbung sorgen dagegen für wachsenden Konsum, auch im analogen Bereich. Der BUND-Experte Jürgen Merks spricht von „Konsumdoping“. Für die in Sachen Nachhaltigkeit entscheidenden Energie- und Ressourcen-Salden stehen jedenfalls die Effizienzgewinne der Hard- und Software in ständigem Wettlauf mit dem auch politisch geförderten Wachstum.
Wo derzeit Video-Streaming einen hohen Anteil ausmacht, bei dem ja das Youtube-Video oder die Drama-Serie nur einmal auf den Servern der Firma Google und Netflix gepeichert ist, wird die produzierte Datenmenge im Internet der Dinge möglicherweise einen Wachstumsschub auslösen, der sich nicht durch effizientere Technik einfangen lässt. Als Worst-Case-Betrachtung könnte nach Schätzungen von Lange/Santarius ein selbstfahrendes Auto alle 3 Tage Daten produzieren, die eine 1-Tera-Byte-Festplatte füllen würden. Wenn diese Daten dank 5G übertragbar und gespeichert werden, um sie mit Algorithmen „Künstlicher Intelligenz“ zu durchforsten, wäre diese Menge wahrscheinlich nicht mehr nachhaltig. Da die „empirische Wahrheit“ irgendwo zwischen „Alarmismus“ und „Zweckoptimismus“ liegen dürfte, fordert Merks eine ganzheitliche „Suffizienzstrategie“ – analog und digital.
Auch wenn der Wachstumstrend des Energieverbrauchs für Informations- und Kommunikationstechnologien derzeit gering ausfällt, ist in einer ganzheitlichen Betrachtung zu befürchten, dass auf Dauer die Effizienzgewinne von der wachsenden Nutzung überholt werden („Rebound-Effekt“). Auch in Sachen Digitalisierung ist zu fragen: Gibt es in einem Wachstum grundsätzlich fördernden System eine Entkopplung von Energie- und Ressourcenverbrauch? Empirische Untersuchungen des Europäischen Umweltbüros, die der Deutsche Naturschutzring veröffentlichte, mahnen, dass es diese Entkopplung bisher praktisch noch nie gegeben hat. Wo sind die empirischen Belege, dass es bei 5G und "Smart City“ anders sein wird?
Werden diese Fragen auf Klimakonferenzen oder von Fridays for Future gestellt? Oder vielleicht in den Kommunen, die Klimaziele haben, aber kein Mobilfunkkonzept, wie z.B. seit August 2021 die Gemeinde Siegsdorf?
Klimakiller Flatrate
Welches Wachstum wir uns leisten können, muss beim Personenverkehr, beim Güterverkehr wie auch auf den Datenautobahnen und den immer effizienteren, aber auch immer noch gigantischeren Parkhäusern für Katzenvideos, Bitcoins und Überwachungsdaten gefragt werden. Vor allem mobiles Internet („24/7 online“) erzeugt laufend immer mehr Daten. Der ökologische Fußabdruck steigt dabei nicht so sehr, weil WLAN mehr Strom verbraucht als eine Kabelverbindung, sondern weil (Smartphone-)Apps meist rund um die Uhr Daten erzeugen, die dann von „Meta“-Konzernen in immer größere Clouds gepumpt werden. Hinzu kommt die immer größere Datenproduktion für „soziale Medien“ wie Instagram oder Tiktok.
Der CO2-Vergleich beim „Youtube-Video-Gucken“ auf Galaxy und iPad mit dem Spruch „Streaming ist das neue Fliegen“ (NZZ) war in übertriebener Weise auf Problembewusstsein gebürstet. Informatikprofessor Lorenz Hilty widerlegte diese Aussage im Tages-Anzeiger, hält aber fest: „Zentral sind zwei andere Dinge: dass wir Strom aus erneuerbaren Quellen gewinnen und im Energiebereich die Fehlanreize beseitigen.“
„Fehlanreize“ ist ein gutes Stichwort. Derzeit wirbt die Telekom mit „unbegrenztem mobilem Datenvolumen“ für Datenhunger ohne Reue. Mit 5G könnte jedenfalls bei Arbeit, Sport und Gaming noch einmal deutlich mehr Appetit angeregt werden. Wo definitiv auch das smarte Internet einen Auspuff hat, darf man als Umweltschützer schon vergleichen und fragen: Warum gibt es eigentlich keine Flatrate an der (Benzin-)Zapfsäule?
Die BUND Naturschutz Kreisgruppe Rosenheim fordert…
… bei allen Infrastrukturprojekten den ökologischen Fußabdruck mit Materialeinsatz und CO2-Ausstoß evidenzbasiert zu ermitteln. Gleich, ob nun 3. Startbahn MUC, 4-gleisiger Brennerzulauf mit zig Tunnelkilometern im bayerischen Inntal, 5G-Mobilfunk-Netz oder 6-spuriger Ausbau der A8 durch den Chiemgau: Bei negativer Prognose für Klima- und Artenschutz ist sowohl national als auch regional nicht mehr nur die Fragen des Wie und Wo zu diskutieren, sondern auch die Frage des Ob zu stellen. Sind Bauaufwand und die bewusst weiter wachsenden Verkehrs- und Datenströme nachweisbar mit den Klimazielen vereinbar?
Das Thema Digitalisierung hat der im Oktober neu gewählte Vorstand der BN-Kreisgruppe Rosenheim auf die Agenda für 2022 genommen. Ob eine Informations- oder Bildungsveranstaltung mit Podiumsdiskussion zustande kommt, bei der auch die obigen Fragen adressiert werden können, ist offen.